10 Antworten zur Festnahme des Telegram-Chefs Pawel Durow (2024)

Am letzten Samstag nahm die Polizei in Frankreich Pawel Durow, den Gründer und CEO der Plattform Telegram, fest. Der Schritt ist bemerkens­wert und dürfte der erste Fall sein, bei dem der Chef eines grossen sozialen Netzwerks strafrechtlich verfolgt wird. Wir haben die wichtigsten Fragen und Antworten zusammen­getragen.

  1. Warum wurde der Telegram-Chef festgenommen?

  2. Was ist Telegram überhaupt?

  3. Was unterscheidet Telegram von Messengern wie Signal oder Whatsapp?

  4. Ist Telegram verschlüsselt?

  5. Wie ist das mit den kriminellen Aktivitäten auf Telegram?

  6. Ist Telegram also ausschliesslich ein Hort von Kriminellen?

  7. Ist Telegram schwierig zu überwachen?

  8. Spielt Geopolitik bei alledem eine Rolle?

  9. Was bedeutet Durows Festnahme für andere Plattformen?

  10. Wie geht es nun weiter?

1. Warum wurde der Telegram-Chef festgenommen?

Die französische Staats­anwaltschaft gab am Montag bekannt, dass Pawel Durow zwei Tage zuvor festgenommen wurde. Die Festnahme stand im Zusammen­hang mit einem französischen Strafverfahren, das bereits im Juli eröffnet worden war und sich zuerst nicht gegen Durow persönlich richtete, sondern gegen eine unbekannte Täterschaft. Am Mittwoch, vier Tage nach Durows Festnahme, sagte die Staats­anwaltschaft schliesslich, dass sie wegen derselben Tatvorwürfe auch ein Untersuchungs­verfahren gegen den Telegram-CEO eingeleitet hat.

Die strafrechtlichen Vorwürfe sind unter anderem: das Betreiben einer Plattform, die dazu dient, illegale Transaktionen durchzuführen, die fehlende Zusammen­arbeit mit den Behörden bei Überwachungs­aktionen, die Mittäterschaft bei Delikten im Zusammen­hang mit Abbildungen von Kindes­missbrauch, Betäubungs­mitteln und Hacking sowie die Bereit­stellung nicht deklarierter kryptografischer Programme.

Wie die Staatsanwaltschaft ebenfalls mitteilte, eröffnete sie die Untersuchung, weil Telegram kaum auf Anfragen der Justiz­behörden reagiert habe. In dem Verfahren soll geprüft werden, ob die Betreiber von Telegram eine Mitverantwortung an den Delikten tragen, die auf der Plattform begangen wurden.

Durow, der in Russland geboren wurde und auch die französische Staats­bürgerschaft hat, wurde am Mittwoch­abend aus dem Polizei­gewahrsam entlassen, gleichzeitig aber unter gerichtliche Aufsicht gestellt. Das bedeutet, dass er sich zweimal wöchentlich auf einem Polizei­posten melden muss, 5Millionen Euro Kaution hinterlegen musste und Frankreich nicht verlassen darf. Weshalb Durow ursprünglich nach Frankreich reiste, ist nicht bekannt. Laut einer Stellungnahme von Telegram reist Durow regelmässig durch Europa und habe nichts zu verbergen. Es sei zudem absurd, zu behaupten– so die Stellungnahme weiter–, dass Telegram oder seine Besitzer für den Missbrauch der Plattform verantwortlich seien.

2. Was ist Telegram überhaupt?

Telegram ist ein Onlinedienst, der 2013 vom russischen Unternehmer Pawel Durow und seinem Bruder Nikolai (gegen den auch ein Haftbefehl vorliegt) gegründet wurde. Ursprünglich wurde Telegram als reiner Messenger­dienst konzipiert. Über die Jahre entwickelte sich die Plattform aber zu einem ausgewachsenen sozialen Netzwerk, das heute nicht nur Ähnlichkeiten mit klassischen Messengern aufweist, sondern auch Aspekte von Plattformen wie Facebook oder anderen sozialen Netzwerken hat.

3. Was unterscheidet Telegram von Messengern wie Signal oder Whatsapp?

Der grösste Unterschied liegt darin, dass auf Telegram schon lange sehr grosse Kanäle und Gruppen erstellt werden können. Gruppen sind Chats, in denen mehr als zwei Personen Mitglied sein können und alle Mitglieder schreiben dürfen. Kanäle sind Gruppen, in denen nur die Administratorinnen Beiträge schreiben dürfen, alle anderen können allenfalls deren Posts kommentieren.

Zwar hat Whatsapp (nicht aber Signal) seit 2023 auch Kanäle, bei Telegram gibt es diese aber schon seit 2015. Gruppen gibt es bei allen Messengern schon lange, bei Telegram können aber seit 2017 bis zu 10’000Personen und heute sogar 200’000Personen einer Gruppe beitreten. Bei Signal und Whatsapp ist diese Zahl auf rund 1000Personen beschränkt. Die Mitglieder­zahl von Kanälen ist bei Telegram wie auch bei Whatsapp unbegrenzt.

Ein weiterer wichtiger Unterschied ist die maximale Grösse von Bildern, Videos und Dateien, die geteilt werden können. Während Telegram schon 2013 Datei­grössen von bis zu 1,5Gigabyte zuliess (heute sind es 2Gigabyte), hat Whatsapp dieses Limit erst vor zwei Jahren von 100Megabyte auf 2Gigabyte erhöht.

Telegram hat deshalb schon sehr viel länger und ausgeprägter Aspekte eines sozialen Netzwerkes, das ausserdem erlaubt, grosse Daten­mengen zu verbreiten. Die Plattform ist zudem– verglichen etwa mit Facebook oder Twitter (mittlerweileX)– deutlich zurück­haltender, was die Moderation seiner Inhalte betrifft. Diese Eigenschaften machen Telegram zu einem beliebten Ort für politischen Aktivismus, Propaganda und das Verbreiten grosser Datensätze, beispiels­weise von gehackten Unternehmen.

4. Ist Telegram verschlüsselt?

Während Telegram in seiner Funktion als soziales Netzwerk erhebliche Vorteile gegenüber Diensten wie Whatsapp oder Signal hat, hat es beträchtliche Mängel bei der Daten­sicherheit. Zwar vermarktet sich Telegram offensiv als verschlüsselter Dienst, so richtig wahr ist das aber nicht.

Telegram-Chats sind standard­mässig nicht verschlüsselt. Die Verschlüsselung kann zwar aktiviert werden, das gilt aber nur für Chats mit Einzel­personen. Gruppen sind nie verschlüsselt. Bei Signal und Whatsapp ist das anders. Signal wurde von Beginn an– das heisst seit 2014– als verschlüsselter Messenger konzipiert, Whatsapp führte die Verschlüsselung 2016 ein. Beide erlauben auch verschlüsselte Gruppen und verschlüsseln alle Kommunikation standard­mässig.

Hinzu kommt, dass die Verschlüsselung von Telegram auf einem ungewöhnlichen Verfahren basiert, dessen Vertrauens­würdigkeit nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Wer sicher kommunizieren will, verwendet also besser nicht Telegram, sondern einen explizit dafür konzipierten Dienst wie Signal.

5. Wie ist das mit den kriminellen Aktivitäten auf Telegram?

Telegram ist tatsächlich sehr beliebt für diverse kriminelle Aktivitäten. Weil das Unternehmen nur spärlich mit Strafverfolgungs­behörden kooperiert, stellt die Plattform eine relativ sichere Operations­basis für Delikte dar. Zum Beispiel:

Auch Terror­organisationen wie der IS, die Hamas oder rechts­extreme Akzelerationisten nutzen Telegram für ihre Propaganda oder um Mitglieder zu rekrutieren. Darüber hinaus sind auch staatliche Akteure wie Russland auf Telegram aktiv.

Auf Interventionen der Behörden reagierte Telegram bisher in unter­schiedlichem Ausmass. Eine Kooperation beispielsweise mit Europol oder dem deutschen Bundes­kriminalamt findet inzwischen durchaus statt, insbesondere im Zusammen­hang mit terroristischen Aktivitäten oder Kindes­missbrauch. Trotzdem fällt die Bereitschaft von Telegram, seine Plattform zu regulieren, bei zahlreichen anderen Straftaten deutlich hinter jene von anderen Netzwerken wie etwa Facebook zurück.

6. Ist Telegram also ausschliesslich ein Hort von Kriminellen?

Nein. Zwar ist die Plattform beliebt für kriminelle Aktivitäten verschiedenen Schwere­grades, gleichzeitig ermöglicht Telegram aber auch Demokratie­bewegungen, sich in autoritären Staaten zu vernetzen. Während der Proteste in Hongkong im Jahr2019 etwa nutzte die Demokratie­bewegung Telegram, um ihre Demonstrationen dezentral zu organisieren und so das Risiko für die einzelnen Teilnehmerinnen zu reduzieren. Das ging so weit, dass während der Demonstrationen live in Telegram-Gruppen über das weitere Vorgehen abgestimmt wurde. Auch bei den Protesten in Belarus in den Jahren2020 und 2021 spielte die Plattform eine grosse Rolle.

Die Reaktion von Telegram auf Druck­versuche autoritärer Staaten fiel unterschiedlich aus. Während die Plattform Sperr­versuche des bela­russischen Diktators Lukaschenko 2020 vereitelte, sperrte sie 2016 einen iranischen News-Kanal.

Auch andere Gruppierungen nutzen Telegram für ihre Aktivitäten. So organisierte sich die Bewegung der Massnahmen­gegner während der Corona-Pandemie zu grossen Teilen auf der Plattform. Und auch Neonazis und Rechts­extreme aus vielen Ländern verbreiten ihre Propaganda auf Telegram-Kanälen.

Gleichzeitig ist Telegram bei weitem nicht die einzige Plattform, auf der kriminelle oder terroristische Aktivitäten organisiert werden. So hat auch Facebook ein Problem mit Darstellungen von Kindes­missbrauch oder dem Verkauf von Betäubungs­mitteln. Der Plattform wird sogar eine Mitschuld am Genozid an den Rohingya im Jahr2017 in Burma vorgeworfen. Und die afghanischen Taliban organisieren sich seit längerem zu grossen Teilen auf Whatsapp.

7. Ist Telegram schwierig zu überwachen?

Das kommt darauf an, welche Informationen überwacht werden sollen. Chats zwischen Einzel­personen oder private Gruppen (also solche, für die man explizit eingeladen werden muss) sind öffentlich nicht verfügbar und können somit auch nicht einfach so beobachtet werden. Gleichzeitig sind diese Chats– wie oben erwähnt– nur in den aller­wenigsten Fällen verschlüsselt. Das bedeutet, dass die Firma Telegram alle Inhalte sehen und gegebenen­falls an Dritte weitergeben kann. Ob und mit wem Telegram diesbezüglich zusammen­arbeitet, darüber ist öffentlich sehr wenig bekannt.

Etwas anders sieht es bei Kanälen oder offenen Gruppen aus (oder auch bei privaten Gruppen, zu denen man einen Zugang erhalten hat). Telegram ermöglicht es, relativ einfach automatisiert Nachrichten und Metadaten über Gruppen­mitglieder zu sammeln und auszuwerten. Das macht es für Journalistinnen, Forscher, gemein­nützige Organisationen oder auch Strafverfolgungs­behörden sehr leicht, ein ziemlich umfassendes Bild von Gruppierungen zu erhalten, die sich auf Telegram organisieren.

8. Spielt Geopolitik bei alledem eine Rolle?

Angesichts Pawel Durows russischer Staats­bürgerschaft und der Tatsache, dass Telegram in Russland sehr beliebt ist und die Plattform für allerlei prorussische Desinformations­kampagnen genutzt wird, drängt sich diese Lesart natürlich auf. Ob dem so ist, lässt sich kaum beantworten. Der französische Präsident Emmanuel Macron sah sich bereits genötigt zu sagen, dass die Festnahme keine politische Entscheidung gewesen sei. Gleichzeitig stellen staatsnahe Medien in Russland das Verfahren als antirussische Aktion dar.

Eine Rolle spielen könnte etwa, dass Telegram offenbar ein wichtiges Werkzeug für russische Soldaten an der Front geworden ist. Damit wäre die Plattform eine enorm wertvolle Quelle dafür, wie sich das russische Militär in der Ukraine koordiniert. Russische Parlamentarier äusserten bereits die Befürchtung, Pawel Durow könnte den französischen Behörden Zugriff auf interne Chats geben, die den Kriegs­verlauf beeinflussen könnten.

Falls es stimmt, dass die russische Armee Telegram als taktisches oder strategisches Kommunikations­werkzeug benutzt, wäre das eine sehr ungewöhnliche Situation. Wie erwähnt können auf Telegram nur Chats zwischen Einzel­personen verschlüsselt werden, und auch diese Verschlüsselung basiert auf einem ungewöhnlichen Verfahren. Gruppen­chats sind immer unverschlüsselt. Eine militärische Nutzung der Plattform würde darum ein erhebliches Risiko bedeuten.

Sollte sich Russland tatsächlich in diese Situation manövriert haben, wäre die Angst wohl berechtigt, dass Durows Festnahme auch geopolitischen Zwecken dienen könnte. Ob und wie eng der Telegram-Chef bislang mit Russland oder anderen Staaten zusammen­arbeitete, ist nicht öffentlich bekannt. Zwar stellt sich Durow gerne als Kämpfer gegen den russischen Staat dar. Ob das wirklich stimmt, ist zweifelhaft. Das Interesse an Telegram dürfte jedenfalls auf vielen Seiten gross sein.

9. Was bedeutet Durows Festnahme für andere Plattformen?

Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwierig zu beurteilen. Der Schritt der französischen Behörden stellt einen Präzedenz­fall dar, dessen Folgen sich erst zeigen werden. Einerseits kann man die Festnahme von Pawel Durow als hartes Durchgreifen gegen ein soziales Netzwerk lesen, das sich Regulierungen weitgehend entzieht und nun gezwungen werden soll, sich an das Gesetz zu halten.

Andererseits lässt sich das Vorgehen der französischen Behörden als Angriff auf Messenger­dienste generell bewerten und als Versuch, das Bereitstellen von Kommunikations­werkzeugen zu kriminalisieren, wenn diese nicht vollumfänglich dem Staat dienen. Seit einiger Zeit schon versuchen Teile der EU-Kommission mit der sogenannten Chatkontrolle, verschlüsselte Kommunikation auszuhebeln. Das würde Freiheit und Demokratie akut gefährden. Seit einiger Zeit zwingt das französische Gesetz ausserdem Anbieter von Verschlüsselungs­anwendungen, diese beim Staat zu registrieren. Bei Zuwider­handlungen droht eine Geldstrafe oder bis zu zwei Jahre Haft.

Wenn Frankreich nun strafrechtlich gegen den CEO von Telegram vorgeht, stellt sich die Frage, ob das Land dasselbe bald auch mit den Chefs anderer Plattformen wie Signal oder Facebook macht. Das könnte einen massiven Abschreckungs­effekt auf Menschen haben, die (insbesondere verschlüsselte) Kommunikations­dienste entwickeln und zur Verfügung stellen. Daran kann eine freiheitliche Gesellschaft kein Interesse haben.

10. Wie geht es nun weiter?

Eine Untersuchung gegen Pawel Durow wurde formell eröffnet. Er darf das Land bis auf weiteres nicht verlassen und muss sich regelmässig auf einem Polizei­posten melden. Brisant an der Festnahme Durows ist (neben der Präzedenz, die damit geschaffen wird), dass der französische Präsident Emmanuel Macron wie auch sein politisches Umfeld offenbar seit Jahren rege Nutzer von Telegram sind. Das könnte bedeuten, dass Durows Firma womöglich eine grössere Menge privater Chat­nachrichten Macrons auf ihren Servern gespeichert hat. Ob und wie sich das auf die weiteren Ereignisse auswirkt und wie das Verfahren gegen Durow weitergeht, werden die nächsten Wochen zeigen.

10 Antworten zur Festnahme des Telegram-Chefs Pawel Durow (2024)
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